Binnenmigration in Brasilien

Rückwanderungen in Heimatregionen sind ein wichtiger Trend

Seit den 1960er Jahren erlebt Brasilien verschiedene Arten von Migration. Zwischen 1960 und 1980 dominierte eine Binnenmigration vom Nordosten in den Südosten des Landes. Menschen verließen in diesen Jahren ländliche Gebiete und migrierten in Städte wie São Paulo und Rio de Janeiro, wo sich die industriellen und wirtschaftlichen Aktivitäten des Landes konzentrierten. Dies führte zu einer Agglomeration in diesen Zentren und drängte ökonomisch benachteiligte Menschen in die Randgebiete dieser Städte.

Seit den 1980er Jahren nimmt diese Bewegung von Nordost nach Südost allmählich ab und das Land erlebt neue Formen von Binnenmigration: Vor allem die so genannte Rückkehrmigration, aber auch Bewegungen in neue und kleinere wirtschaftliche Zentren.

 

Die Migrationsbewegung seit den 1960ern war eine Folge der Krise der brasilianischen Landwirtschaft, sie manifestierte sich aber erst in den 1970ern als „Krisenmigration“. In diesen Jahren stiegen auch São Paulo und Rio de Janeiro zu Wachstumszentren auf.
 

​​​​​​​Landbewohner:innen suchen ihr Glück in den Städten

Der starke Zuzug von Menschen aus den ländlichen Regionen ließ die Bevölkerung in diesen Metropolen so stark anwachsen, dass die Arbeitsmöglichkeiten erschöpft waren und nach und nach viele soziale Probleme entstanden. Die meisten Migrant:innen erfuhren an den Orten, in die sie gezogen waren, schlechte Lebensbedingungen, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und rassistische Ausgrenzung. Der Traum, einen besseren Job zu finden und Geld an die zurückgebliebene Familie zu schicken, wurde für viele zu einem Albtraum. Viele fanden sich in schlechteren Bedingungen als zuvor wieder. Daher beschloss ein großer Teil der Einwanderer bzw. die, die es sich noch leisten konnten, diese Städte zu verlassen und in ihre Herkunftsregionen zurückzukehren.

 

Die Rückkehr in die Herkunftsregionen…

Diese Rückkehrbewegung ist zwischen 1981 und 1991 nach Angaben des IBGE (Brasilianisches Institut für Geographie und Statistik) stark angestiegen. Kehrten 1981 noch 11 Prozent der Migrant:innen zurück, so waren es zehn Jahre später bereits 24,5 Prozent. Der brasilianische Zensus von 2010 zeigt, dass im Zeitraum 2000-2010 21,5 Prozent der Migrant:innen an ihren Geburtsort zurückkehrten. Die Rückkehrbewegung war somit für 20 Jahre weitgehend stabil.
 

52,6 Prozent der Rückkehrer:innen waren dabei 30 Jahre alt oder älter, bei den „normalen“ Migrationen liegt diese Altersgruppe bei nur 38,5%.

Der höchste Prozentsatz der zwischenstaatlichen Rückkehrmigrant:innen wurde für Migrierende im Alter von 60 bis 69 Jahren beobachtet. Unter jüngeren Migrant:innen, d.h. bis zu 29 Jahren, lag der Anteil der Rückkehrenden immer unter 20 Prozent.

Dementsprechend sind es vor allem ältere Menschen, die in die Regionen zurückkehren, in denen sie geboren worden sind. Diese Menschen sind wahrscheinlich in jungen Jahren in andere Regionen migriert. Dort blieben sie solange, bis sie die Kosten für eine Rückkehr aufbringen konnten.

 

….. und neue Migrationsziele

Die Hochrechnungen von 2013 und 2018 des IBGE zeigen eine Tendenz zur Abschwächung der Migrationsströme in ganz Brasilien. Dieser Trend lässt sich durch eine verbesserte Infrastruktur, erhöhte Beschäftigungsmöglichkeiten oder einen direkten Einkommenstransfer erklären. All diese Faktoren ermöglichen es den Familien, für sich selbst zu sorgen und bedeuten, dass es nicht notwendig ist, bessere Lebensbedingungen in anderen Regionen zu suchen.

Darüber hinaus fand in den letzten Jahren eine Dezentralisierung der industriellen und wirtschaftlichen Aktivitäten statt. Städte wie São Paulo und Rio de Janeiro sind nicht mehr die einzigen Industriestandorte. Diese Veränderungen tragen zur Verzweigung der Migrationsströme auch in andere Regionen bzw. Städte bei. Mit anderen Worten, es gibt mehr Menschen, die in benachbarte Städte oder nahegelegene ländliche Orte innerhalb ihres Bundesstaates migrieren, und weniger, die in entferntere Bundesstaaten gehen.

 

Die Situation in den Projektregionen der ASW 

Der Zensus 2010 zeigt, dass es in mehreren Staaten der nördlichen Region (zu ihnen zählt Pará) mehr Einwanderer als Auswanderer gab. Auch die Nordostregion weist in diesem Zeitraum eine ähnliche Statistik auf. Eine Ausnahme bildet der nordöstliche Bundesstaat Maranhão, in dem die ASW aktiv ist. Hier ist die Auswanderung sehr groß, was zu einem Bevölkerungsschwund von 1,05 Millionen Menschen geführt hat.

 

Hohe Rotation von Menschen in Pará

Im Bundesstaat Pará, in dem ein Teil des amazonischen Ökosystems liegt, ist sowohl die Zahl der Einwanderer als auch die der Auswanderer im Vergleich zu anderen Bundesstaaten sehr hoch, so dass von einer starken Bevölkerungsrotation gesprochen werden kann.

Die meisten Menschen, die Pará verließen, gingen dabei in die Nachbarstaaten Amazonas, Amapá und Maranhão und nicht mehr in Regionen des Südostens und Südens.

Als Einwanderungsdestination wurde Pará von Migrant:innen aus Maranhão genutzt. Außerdem hat der Bundesstaat 76,8% der Auswanderer von außerhalb des Nordens aufgenommen sowie Rückkehrmigranten, also solche, die einst Pará den Rücken gekehrt hatten (Die Zahl der Rückkehrenden liegt seit 25 Jahren konstant bei 15 bis 20 Prozent der Gesamtzahl der Migrant:innen in der Region).

Pará verzeichnete insgesamt ein starkes Bevölkerungswachstum. Viele Städte dieses Bundesstaates, wie Altamira, Itaituba, Marabá, Santarém, Redenção und Parauapebas, wo sich mehrere ASW-Partner befinden, haben sich als mittelgroße regionale Ballungszentren und Standorte von Bergbau und anderer Unternehmen herausgebildet. Diese Art der Entwicklung und der Bevölkerungszuwachs in diesen neuen mittelgroßen Städten sind jedoch als kritisch einzustufen. Zu starken Beeinträchtigungen der Umwelt kommt eine Überlastung der sozialen Infrastruktur. Darunter leiden meist die ärmsten und am meisten benachteiligten Bevölkerungsgruppen.

 

Bundesstaat Maranhão

Im Gegensatz zu Pará ist der Anteil der Migrant:innen, die in den Bundesstaat Maranhão zurückkehren, in den letzten 25 Jahren drastisch gesunken: von über 40% auf weniger als 20%. Da 2010 in Maranhão die Zahl von Auswanderern fast genau so groß wie 2000 war, gilt dieser Staat weiterhin als Auswanderungssregion. Trotzdem verzeichnete Maranhão aufgrund einer hohen Geburtenrate ein leichtes Bevölkerungswachstum. Man kann somit schließen, dass im Vergleich zu vor 10 Jahren mittlerweile weniger Menschen den Bundesstaat verlassen. Das könnte mit dem Wachstum der lokalen Wirtschaft zusammenhängen.

Im Norden von Maranhão, wo sich die Hauptstadt Sao Luis befindet, spiegelt der Bevölkerungszuwachs eine Ausweitung der Agrarfläche wider. Wo früher noch Wald war, werden heute großflächig Mais, Soja und Baumwolle angebaut. Diese Art der Erweiterung, wie auch die vergleichbare Ausweitung des Bergbaus in Pará, hat jedoch starke Auswirkungen auf die Umwelt und somit auf das empfindlichen Ökosystem des Amazonas. Zudem gehen die wirtschaftlichen Profite meist an Großgrundbesitzer oder internationale Investoren..
 

Die wirtschaftliche Entwicklung vertreibt Menschen, zieht andere an und schwächt langfristig die Binnenmigration

In mehreren Teilen Amazoniens, zu dem alle Staaten der nördlichen Region sowie Mato Grosso (Mittlerer Westen) und Maranhão (Nordosten) gehören, trägt der Bau von Wasserkraftwerken und Infrastruktur zum Bevölkerungswachstum bei. Dabei werden aufgrund der Entwaldung für Landwirtschaft und Viehzucht sowie durch Überflutungen z.B. durch Staudammbauten vor allem indigene Völker und traditionelle Gemeinschaften aus ihren Gebieten vertrieben. In diesem Fall muss also von Zwangsmigrationen gesprochen werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich aus den genannten Hochrechnungen eine Tendenz zu immer weniger Binnenmigration herauslesen lässt. Dieser Trend ist unter anderem auf eine verbesserte Infrastruktur, mehr Jobs und andere Einkommensmöglichkeiten zurückzuführen. Dennoch gibt es immer noch einige Bundesstaaten wie z.B. Maranhão, die nach wie vor viele Menschen verlassen. Daraus lässt sich schließen, dass es noch viel zu verbessern gibt, damit die oder der Einzelne sich nicht aus Not für Migration entscheidet, sondern aus anderen, selbstgewählten Motiven.
 

Von Tatiana Gasques